13.12.2018 Dimitra Dermitzaki

Die liberale Demokratie und ihre Mythen


Protestierende mt einem Plakat "Democracy not Oligarchy."

Neigt die liberale Demokratie zur Oligarchie?

Die Demokratie (Griechisch für "Macht des Volkes"), insbesondere die repräsentative Demokratie, gilt heutzutage bei den Mainstream-Medien und in öffentlichen Diskursen als unumstritten. Sie gilt als das politische Vorzeigesystem und als beste Form der Repräsentation des Volkes. Trotz des durch den Begriff suggerierten Inhalt, dass die Macht vom Volk käme, liefen bereits im Geburtsort der Demokratie, im antiken Griechenland, anderweitige Mechanismen ab.

Ursprünge der Demokratie

Das damalige Griechenland setzte sich aus mehreren Stadtstaaten zusammen. Das griechische Staatensystem umfasste zu Spitzenzeiten schätzungsweise vier Millionen Menschen. Im größten Stadtstaat und politischen Zentrum, in der Polis von Athen, lebten ungefähr 250.000 Menschen, wovon jedoch ein nicht unerheblicher Teil Sklaven waren, und davon waren schätzungsweise 50.000 - 60.000 erwachsene männliche Bürger.

Im Zuge der Etablierung demokratischer Strukturen wurde eine Art Verfassung entwickelt. Darin waren die Pflichten und Rechte der Bürger verankert, um Ordnung zu schaffen, Bürgerkriege und sowohl  politische als auch ökonomische Verwerfungen zu vermeiden. Für die Volksversammlung, die mindestens viermal pro Monat stattfand, erhielten alle männlichen Bürger Athens Stimmrecht, und sie beschloss demokratisch Gesetze und wählte Beamte. Frauen und Sklaven konnten nicht als Volksvertreter an der Volksversammlung teilhaben und hatten demnach auch weder aktives noch passives Wahl- bzw. Stimmrecht. Als Bürger wurden alle Männer aufgefasst, die den Wehrdienst abgeleistet hatten, deren Eltern beide Athener waren und die beispielsweise durch Steuerschulden nicht das Bürgerrecht in Form der Teilnahme an den Versammlungen verloren hatten.

Manifestation des Patriarchats und der Klassenteilung der Attische Demokratie

Das Bürgerrecht wurde damit zur unabdingbaren Voraussetzung, um an der gelebten athenischen Demokratie teilzuhaben. Ausschlaggebend war hierbei, dass der Zugang zur Volksversammlung nicht nach Privatvermögen gemessen wurde und demnach theoretisch allen - unabhängig vom sozialen Stand - zur Teilhabe offenstand. Obwohl die Bürger in diesem Rahmen gleiches Recht und die gleiche Freiheit hatten, als direkte Repräsentanten des Volkswillens zu agieren, gab es dennoch eine gewisse Hürde für sie, um Ratsmitglieder und Inhaber von Ämtern (Beamte) zu werden. Als Diener des Volkes waren sie weder durch Immunität geschützt noch wurden sie entgeltlich entschädigt. Aus diesem Grund konnten nur vermögende Bürger der Aristokratie diese Ämter bekleiden, da sie von ihrem eigenen Vermögen leben mussten, um politische Posten innehaben und eine politische Karriere verfolgen zu können.

Auf diese Weise wurde es wohlhabenden Männern per Gesetz ermöglicht, als herrschende Klasse Politik zu ihrem Vorteil und zum Vorteil ihres Privateigentums zu machen. Die "demokratischen" Verhältnisse in der Antike waren hauptsächlich bestimmt von Güterverteilung und Eigentumsschutz in einer Klassengesellschaft.

Liberalismus und die Etablierung liberaler Demokratien in der jüngeren Geschichte

Die Eigentumsverhältnisse in einer vorindustriell strukturierten Gesellschaft werden als der Grundbaustein der erst zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert etablierten Nationalstaaten und der sich entwickelten Industrialisierung - mit dem Ergebnis eines expandierenden Kapitalismus - angesehen. Aus diesem Kontext heraus erscheint es von zentraler Bedeutung, die herrschende Ideologie des Kapitalismus und ihre historische Bilanz im Verhältnis zur Demokratie zu hinterfragen.

Die Demokratie spielt in den als „modern“ beschriebenen - zumeist europäischen - Gesellschaften eine große Rolle. Sie ist das Sinnbild der politischen Partizipation der Massen, der Gerechtigkeit und der Wertschätzung der Mitbürger*innen. Der Preis für die Neuetablierung demokratischer Republiken in Europa war - vor dem Hintergrund zweier faschistischer und sozioökonomisch verheerender Weltkriege - sehr hoch. Deswegen gelten Demokratien als ein mit allen Mitteln zu schützendes Gut, da es erst mit den neuen Demokratisierungsansätzen nach der Stunde „Null“ im Jahr 1945 zu Frieden und Wohlstand auf dem europäischen Kontinent kommen konnte.

Seit der Demokratie im antiken Griechenland haben sich global viele politökonomische Änderungen vollzogen. Die Frage nach der Rolle von Demokratien in heutigen Staaten steht in Verbindung mit dem Einbruch des modernen Liberalismus und des Demokratisierungsprozesses. Ausgehend von der herrschenden Meinung in Deutschland und auch in Europa, dass die liberale Demokratie unabdingbar für Frieden und Gerechtigkeit sei, ist eine genauere Betrachtung der Dialektik des Liberalismus von großer Wichtigkeit. Der Liberalismus verspricht (individuelle) Freiheit und (rechtliche) Gleichheit, was oft ebenfalls durch demokratische Systematiken beworben wird. Diese individuelle Freiheit, die durch altbekannte Redewendungen (wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“) gesellschaftlich verankert wird, betont euphemistisch den Preis, der für diese vermeintliche individuelle Freiheit zu zahlen ist: Kapitalismus -  oder mit anderen Worten auch „freie Marktwirtschaft“.

„Da der Kapitalismus auf Privateigentum, Konkurrenz und Profit basiert, ist das liberale Freiheitsversprechen folglich nicht ungetrübt.“ (vom Politikwissenschaftler und Histroiker Axel Rüdiger)

Anders als ab ungefähr Mitte des 20. Jahrhundert, fungierte der Staat zwischen dem 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einerseits als politische Instanz, war andererseits jedoch nicht mit der kapitalistischen Marktökonomie identisch. Obwohl wirtschaftliche Interessen präsent waren und die Gesellschaft als auch Staat dominierten, waren beide weitestgehend doch selbstständig und vom Kapitalismus trennbar. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war aber nicht nur von faschistischen (Welt-)Kriegen geprägt, sondern auch von der russischen Oktoberrevolution von 1917, die Auswirkungen auf das Ende des alten liberalen Zeitalters und dadurch auf die Etablierung von neuen liberal-demokratischen Werten hatte. Letztere drückten ein gesellschaftlich vorhandenes Bedürfnis nach einer konstitutionellen Regierungsform mit frei gewählten Regierungen und repräsentativen Parlamenten, nach Bürgerrechten wie Redefreiheit, Pressefreiheit und so weiter aus. Auf diese Weise sollten sich Staat und Gesellschaft - in ihrer durch demokratische Prinzipien entstandenen starken Verwobenheit - an der Vernunft und der Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen orientieren.

Der Mythos der individuellen Freiheit und Chancengleichheit

Basierend auf den zwei Hauptversprechen im Liberalismus, verspricht auch die liberale Demokratie individuelle Freiheit und rechtliche Gleichheit. Auf diese Weise werden jedoch strukturelle Probleme mit der Argumentation von der angeblich gleichberechtigten und allen zugänglichen gesellschaftlichen Partizipation in Form der repräsentativen Demokratie verschleiert.

Ausgehend von einem der zwei Hauptargumente liberaler Demokratie, dass jeder Mensch  eine individuelle Freiheit habe, ist es unerlässlich zu betonen, dass Menschen nicht nur Individuen mit persönlichen Bedürfnissen und Problemen sind, sondern auch soziale Wesen. Menschen stehen auch in gewisser überlebenswichtiger Abhängigkeit zueinander. Durch das dominant vertretene Argument der Individualität und individuellen Freiheit wird dies jedoch zunehmend verschleiert und somit sowohl persönliche als auch kollektive Ausbeutung legitimiert, da jeder Mensch „seines Glückes Schmied“ und damit selbst verantwortlich für das eigene Schicksal sei. Strukturelle Probleme wie Rassismus, Sexismus und Armut in der globalen Gesellschaft werden oftmals als Herausforderung dargestellt, die individuell oder auf rein politischer Ebene zu lösen sind.

Zum Beispiel sind sowohl Rassismus als auch Sexismus Diskriminierungsformen, die allseits präsent sind und die sowohl in manchen Regionen wie auch industriellen Sektoren stärker ausgeprägt sind als in anderen. Sie ziehen sich durch alle staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen sowie Institutionen und werden damit eben nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern auch gesellschaftlich und kulturell reproduziert. Es sind Diskriminierungsformen, die in kapitalistisch-patriarchal strukturierten Gesellschaften unter anderem als Werkzeuge zur Erhaltung und Reproduktion von Herrschaftssystemen dienen. Durch rassistische Bilder werden  Personen aufgrund ihres Hauttons und im Rahmen der - erst zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert etablierten - Nationalstaaten aufgrund bestehender, jedoch konstruierter (nationaler) Grenzen und der konstruierten Nichtzugehörigkeit auf vielen Ebenen von der politischen sowie gesellschaftlichen Teilhabe und damit oftmals auch von der „siegreichen" Teilhabe an der „freien Marktwirtschaft“ ausgeschlossen.

Konkludierend wird auf diese Weise sukzessive der Anschein erweckt, dass wenn es beispielsweise Rassismus, Sexismus oder andere Diskriminierungsformen am Arbeitsplatz gibt, es sich um „Einzeltaten“ handele und diese dann auch individuell, etwa in einzelnen Arbeitskämpfen, zu lösen sind. Rassismus und Sexismus werden so nicht nur in ihrer gesellschaftlichen Präsenz verschleiert, sondern auch in ihrer Funktionsweise in kapitalistischen Strukturen und Herrschaftsmechanismen. Das wird besonders deutlich bei unterschiedlichen Regelungen am Arbeitsplatz für Migranten und Nichtmigranten bzw. an der Gender Pay Gap. In Deutschland verdienen Frauen für die gleiche Arbeit im Durchschnitt immer noch ca. 22% weniger als Männer. Der Unterschied in den Renten zwischen Männern und Frauen liegt bei durchschnittlich 45%. Hierbei handelt es sich nicht um Einzelfälle, sondern um strukturelle Herausforderungen, die auch als solche betrachtet und gelöst werden müssen.

Ein weiterer Aspekt ist in diesem Kontext der Mythos um die Chancengleichheit. In spät-kapitalistischen Gesellschaften - wie in Deutschland - wird zunehmend über soziale Gerechtigkeit gesprochen, mit besonders vielen Stimmen aus der politischen Mitte. Jedoch ist „Gerechtigkeit“ als normative Größe für das menschliche Zusammenleben in neoliberalen Strukturen nicht ganz angemessen.

Durch die Akzeptanz der im Liberalismus als positivistisch angesehenen individuellen Freiheit werden zeitgleich kapitalistische Strukturen - und demnach auch das Wettbewerbsprinzip – gesellschaftlich hingenommen, wobei es - einfach ausgedrückt - Verlierer*innen und Gewinner*innen produziert. Hier gibt es keinen Anspruch auf gleiche und gerechte Verteilung von Ressourcen, sondern im besten Falle auf die von liberalen Demokratien geforderte Chancengleichheit oder Zugangsgerechtigkeit. Diesem Prinzip nach haben alle Menschen dieselben Chancen und Grundvoraussetzungen innerhalb einer durch permanenten Konkurrenzkampf charakterisierten Leistungsgesellschaft. Damit wird postuliert, dass diejenigen, die viel leisten und ihre große Leistungsfähigkeit beweisen, auch Anspruch auf einen hohen Lebensstandard haben. Diesen kapitalistischen Mythos fachen liberale Demokratien weiter an, indem nicht die unbegrenzte Profitmaximierung und Ausbeutung als das Grundproblem von Ressourcenungleichverteilung angegangen und bekämpft wird, sondern stattdessen darauf hingewiesen wird, dass alle Menschen - jedoch nur Bürger*innen -  alle vier bis fünf Jahre dasselbe Wahlrecht und eine gesetzliche - jedoch theoretische – Gleichheit genießen würden, die es ihnen ermöglichen würde, Ungleichheit individuell einzuklagen.

Die vermeintliche Repräsentation in der parlamentarischen Demokratie

Die parlamentarische Demokratie mit ihrem repräsentativen Charakter sorgt allerdings nicht dafür, dass sich Menschen als ein fester Teil einer Gesellschaft regelmäßig zusammensetzen und als von politischen sowie ökonomischen Entscheidungen im Kollektiv Betroffene entscheiden, sondern die parlamentarische Demokratie trägt in diesem Kontext nur mehr dazu bei, dass sich Menschen zunehmend voneinander entfremden und auch von politischen Entscheidungen entfremdet werden. Einerseits wird also vermittelt, dass jeder Mensch für sich selbst verantwortlich sei, andererseits wird aber jede Beteiligung an kollektiven Entscheidungsprozessen verhindert, indem die eigene „Stimme“ über Jahre an Repräsentant*innen delegiert wird. Dies hat zur Folge, dass Menschen nicht nur mehr und mehr entpolitisiert werden, sondern sich den realen gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen ihres Handelns nicht bewusst sind und sich damit nur umso mehr auf sich Selbst als Individuen konzentrieren. Schlussendlich wird damit verlernt, sowohl Verantwortung für sich und auch für andere zu übernehmen, als auch die eigenen Rechte zu kennen und gegenüber Anderen einzufordern.

Abschließend betrachtet erzeugt die parlamentarische Demokratie in neoliberalen Gesellschaftsstrukturen -, ähnlich wie die Attische Demokratie - einen Mechanismus der Ausgrenzung und Entfremdung vom politischen Geschehen, vom kollektiven Entscheidungsprozess und von gegenseitiger Verantwortung. Es gibt keine Ressourcen- und Chancengleichheit, da liberale Demokratien auf ähnlichen Prinzipien liberal-ökonomischer Strukturen basieren, in denen es immer - insbesondere auf einer materiellen Ebene - Verlierer*innen und Gewinner*innen gibt. Die Demokratie ist demzufolge bisher in der Praxis schon immer ein Instrument der vermögenden Bürger der Aristokratie, der Reichen, der Industriellen und Großkapitalisten, der Millionäre und Milliardäre gewesen, um die weniger Vermögenden und Habenichtse effektiver zu regieren sowie ihren Abstand zu ihnen und zwischen ihnen auszudehnen.

Dimitra DermitzakiDimitra Dermitzaki ist Politikwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Sie ist aktiv beim Frauen*streikkomitee Berlin und ist Autorin für das Lower Class Magazine. Ihre Forschungs- und Rechercheschwerpunkte sind der Rechtsruck in der griechischen Gesellschaft sowie die sozialen Auswirkungen der Wirtschaftskrise aus einer Basisperspektive als auch die europäische Asyl- und Migrationspolitik.


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Altvater28-12-18

Was ist die Alternative zur liberalen Demokratie, Frau Dermitzaki?





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