17.01.2018 Ramon Schack

Interview mit dem Experten Ahmed Rashid: "Taliban kein monolithischer Block"


Der führende Taliban-Experte Ahmed Rashid.

Der führende Taliban-Experte Ahmed Rashid.

Ahmed Rashid, 1948 in Pakistan geboren und in Großbritannien aufgewachsen, gilt als international anerkannter Taliban-Experte, sein im Jahr 2000 veröffentlichtes Buch "Taliban - Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad" stand über einen Monat auf der Bestsellerliste der „New York Times“ und wurde 1,5 Millionen Mal verkauft und ist in 26 Sprachen erhältlich. Sein Buch wird außerdem an rund 200 US-amerikanischen Universitäten als Lehrbuch verwendet.

Ramon Schack: Herr Rashid, 15 Jahre nach dem Beginn des "Krieges gegen den Terror", wie man es damals im Westen formulierte, sind weder Krieg noch Terror beseitigt worden, weder in Ihrem Teil der Welt, noch im Westen. Afghanistan stand damals im Mittelpunkt des militärischen Engagements des Westens, flankiert von der Operation "Enduring Freedom". Wie lautet diesbezüglich Ihre Bilanz?

Ahmed Rashid: Kürzlich wurde ich von einem US-amerikanischen Magazin danach befragt, weshalb die Taliban nicht versessen darauf sind, an die Verhandlungstische zurückzukehren. Ich antwortete, dass dies darauf zurückzuführen sei, dass die Taliban in den vergangenen Monaten so viele militärische Erfolge zu verzeichnen hatten, dass sie selbstbewusst die militärische Linie fortführen, anstatt Verhandlungen zu führen. Diese Ausführung beantwortet auch Ihre Frage nach meiner Bilanz bezüglich des "Krieges gegen den Terrors". Wenn die Taliban im Afghanistan in der Lage sind, militärische Erfolge zu erzielen, dann ist dieser Krieg gescheitert, dessen ursprüngliches Ziel es ja 2001 war, die Taliban zu vernichten.

Ramon Schack: Stellen die heutigen Taliban in Afghanistan denn einen monolithischen Block dar, wie 2001, oder gibt es verschiedene Fraktionen?

Ahmed Rashid: Auch 2001 waren die Taliban kein monolithischer Block - weder in Afghanistan, noch in Pakistan, auch wenn es in den internationalen Medien so dargestellt wurde. Die Unterschiede zwischen afghanischen und pakistanischen Taliban wurden nicht reflektiert. Die heutige Taliban in Afghanistan sind zerstrittener denn je. Das ist ja auch der Grund, weshalb der vormalige Talibanführer, Akhtar Mohammed Mansur, aufgrund der damaligen Teilnahme an Verhandlungen nicht noch mehr Konfliktpotential innerhalb der Taliban entstehen lassen wollte.

Nach seinem Tod ist durch die Machtübernahme des neuen Führers, Haibatullah Achundsada, der ja ein Hardliner ist, der interne Machtkampf verstärkt worden. Es gibt innerhalb der Taliban eine Friedenslobby, aber auch eine Kriegslobby. Darüber hinaus kommt es zu Streitereien innerhalb der Führung und zu Angriffen von Seiten des sogenannten "Islamischen Staates", der ihnen den Rang streitig machen möchte und Taliban-Kämpfer rekrutiert. Und obwohl die afghanischen Taliban abhängig von Pakistan sind, gibt es Streit mit Islamabad, weil man dort die Taliban an den Verhandlungstisch drängen möchte.

Ramon Schack: Sie erwähnten die Unterschiede zwischen den Taliban in Afghanistan und Pakistan. Könnten Sie darauf bitte noch etwas genauer eingehen?

Ahmed Rashid: Sicherlich, denn die pakistanischen Taliban unterscheiden sich beträchtlich von denen in Afghanistan. Die Taliban in Pakistan haben eine ganz andere politische Strategie als die in Afghanistan.

Ramon Schack: Inwiefern?

Ahmed Rashid: Die pakistanischen Taliban haben das Ziel, ein islamistisches Regime im Lande zu installieren. Sie verfügen über viele Brückenköpfe und Stützpunkte in zahlreichen Regionen Pakistans. Schon seit langer Zeit setzen sich die pakistanischen Taliban nicht mehr ausschließlich aus Paschtunen zusammen. Inzwischen haben sie sich zu einer nationalen Bewegung entwickelt, in der man alle Volksgruppen findet - ganz im Gegensatz zu Afghanistan, wo mehr als 90 % der Taliban der Volksgruppe der Paschtunen angehören.

Ramon Schack: Welche Auswirkungen haben die Ereignisse in Afghanistan auf die politische Stabilität Pakistans?

Ahmed Rashid: Pakistan und Afghanistan sind schicksalhaft miteinander verbunden, basierend auf dem demographischen Gewicht Pakistans und dessen Einfluss auch auf die afghanischen Paschtunen im Süden des Landes, vor allem wegen der geographischen Nachbarschaft und der langen gemeinsamen Grenze. Dadurch gelang es den afghanischen Taliban, sich teilweise auf pakistanisches Territorium zurückzuziehen, in die unzulänglichen Bergregionen Wasiristans - ein Gebiet, das von den pakistanischen Behörden kaum kontrolliert werden kann. Natürlich genießen die afghanischen Taliban dort auch den Schutz ihrer pakistanischen Alliierten, basierend auf dem Paschtunwali, dem Sittenkodex der Paschtunen.

Ramon Schack: Was sind angesichts der von Ihnen geschilderten Rahmenbedingungen die Konsequenzen, die Pakistan ziehen kann und ziehen muss?

Ahmed Rashid: Ich denke, dass Pakistan keine andere Wahl hat, als sich um eine Beendigung des Krieges mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bemühen. Die Regierung in Kabul ist sehr schwach. Deshalb muss Islamabad intervenieren - zunächst diplomatisch, um eine Rückkehr der Taliban an die Verhandlungstische zu fördern.

Ramon Schack: Aber das wird doch von Islamabad schon seit 2001 mit Hilfe der USA versucht, wenn Sie mir diese Zwischenfrage gestatten?

Ahmed Rashid: Diese Zusammenarbeit hat nicht gefruchtet. Unter den Pakistanis wächst der Unmut gegenüber den USA. Wie viele Zivilisten kamen schon durch Drohnen ums Leben? Gleichzeitig ist das Misstrauen der USA gegenüber der Führung in Pakistan weit verbreitet. Nein, es ist höchste Zeit für einen Neuanfang.

Ramon Schack: Was war denn der größte Fehler in der amerikanischen Afpak-Strategie?

Ahmed Rashid: Die USA haben sich viel zu sehr auf das Militär verlassen und auf eine militärische Lösung der Probleme. Ein Großteil der Gelder aus den USA wurde in die Rüstung gesteckt, kaum etwas in den Aufbau von zivilgesellschaftlichen Strukturen beziehungsweise den Abbau der Missstände Pakistans, wie etwa der Korruption.

Während all dieser Jahre fand ein Prozess statt, den ich die Talibanisierung der pakistanischen Gesellschaft nenne. Selbst in Lahore, meiner Heimatstadt, bestimmen junge Absolventen der Koranschulen die Gesetze auf den Straßen, zwingen Frauen den von ihnen propagierten Kleidungsstil auf, attackieren Vertreter eines anderen Lebensstils. Natürlich gibt es noch eine starke urbane Mittelschicht, die aber zunehmend ins Fadenkreuz gerät. Bisher bin ich nicht der Überzeugung, dass diese Militanten den Großstädten ihr Gedankengut aufzwingen können - leider gibt es aber zu wenig Widerstand, was mir Sorgen bereitet.

Ramon Schack: Pakistan ist eine Atommacht und hat mehr Einwohner als Russland. Halten Sie denn diesbezüglich die These für richtig, welche im Westen zu hören ist, wonach es sich bei Pakistan um den gefährlichsten Staat der Welt handelt?

Ahmed Rashid: So weit ist es glücklicherweise noch nicht - aber das Potential, der gefährlichste Staat der Welt zu sein, besitzt Pakistan auf jeden Fall.

Ramon Schack: Gibt es eine Möglichkeit, die drohenden Risiken, die aus diesen Konflikten erwachsen, zumindest einzuschränken?

Ahmed Rashid: Sicherlich, aber nur unter Einbindung der nichtwestlichen Regional- und Supermächte in der Region - in diesem Fall der Islamischen Republik Iran und der Volksrepublik China. Beide Staaten spielten bisher eine positive Rolle und haben ein großes Interesse an Stabilität in der Region.

Iran hat sowohl eine Grenze mit Afghanistan als auch eine zu Pakistan. Teheran spielt hierbei die gleiche Rolle für die Tadschiken in Afghanistan wie Pakistan für die Paschtunen. Teheran war schon immer ein Feind der Taliban, schon aus religiösen Gründen. Und China hat das ökonomische Potential, massiv in die Infrastruktur Afghanistans zu investieren. Wenn Peking, Teheran und Washington zusammen an der Stabilität der Region arbeiten würden, bestünde eine Chance auf Frieden.

Ramon Schack: Vielen Dank Herr Rashid.

Ramon SchackRamon Schack (geb. 1971) ist Diplom-Politologe, Journalist und Publizist. Er schreibt für die „Neue Zürcher Zeitung“, „Zeit Online“, „Deutschland-Radio-Kultur“, „Telepolis“, „Die Welt“ und viele andere namhafte Publikationen. Ende 2015 wurde sein BuchBegegnungen mit Peter Scholl-Latour – ein persönliches Portrait von Ramon Schack" veröffentlicht, eine Erinnerung an geteilte Erlebnisse und einen persönlichen Austausch mit dem berühmten Welterklärer.


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Tina21-03-18

Gutes Interview!





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